Eishockey-Weltmeister? Eidgenossen als Meister der Welten? Ja, das ist möglich. Und wieder einmal sehen wir durch den Weihrauch des heraufziehenden sportlichen Ruhmes und des aufflammenden Patriotismus, warum die Schweiz ein heimliches, steinreiches Imperium geworden ist. Wirtschaftlich, diplomatisch und sportlich als Land, in dem es mehr Steine als Bodenschätze gibt.
Ja, auch wir Schweizer sind Patrioten. Aber auf eine ganz besondere Art. Patriotismus auf helvetische Art ist kein brüllender Löwe. Kein lauter Nationalstolz. Feiern ja, auch ausgelassen, wenn sportlicher Ruhm draussen in der Welt errungen wird. Aber unserem Patriotismus wohnt eine Bescheidenheit inne, die ihn vor dem Gift der Arroganz bewahrt. Diese Zurückhaltung hat historische Gründe: Neutralität, föderale Vielfalt, der Wille zum Konsens. Diese guteidgenössische Bescheidenheit ist keine Schwäche. Sie ist Teil eines Systems, das Exzellenz im Verborgenen fördert.
Man macht lieber, als man redet – und lässt die Resultate für sich sprechen. Diese Mentalität zieht sich durch alle Bereiche: von der Präzisionsarbeit in der Uhrenindustrie bis hin zum diplomatischen Engagement auf der Weltbühne und eben zum Sport. Zum Eishockey. Ja, im Eishockey lässt sich besser als in jeder anderen Sportart das erfolgreiche «Modell Schweiz» erklären. In nur dreissig Jahren ist es gelungen, aus der völligen internationalen Bedeutungslosigkeit zur «Weltmacht» aufzusteigen. Das hat viel mit unserem ganz speziellen Patriotismus zu tun.
Franzosen, die einst aus religiösen Gründen verfolgt worden sind, haben die Kunst der Uhrenmacherei in unser Land gebracht, und wir haben daraus eine Weltindustrie gemacht. Ausländische Trainer und Spieler haben die Kunst des Eishockeys in die Schweiz gebracht, und wir haben daraus einen ganz eigenen Stil entwickelt. Mit der Bescheidenheit, die es uns ermöglicht, zuzuhören. Mit einer Toleranz und Weltoffenheit als Voraussetzung, bessere ausländische Ideen einfliessen zu lassen. Mit dem Mut, die ganz grosse internationale Herausforderung zu suchen.
Das ist nur möglich, wenn wir diese Bescheidenheit mit Patriotismus aufladen. Mit stillem Stolz nach aussen, Leidenschaft im Inneren. Im Eishockey sehen wir, wie die Schweiz ein heimliches Imperium geworden ist. Und das wäre mit übertriebenem Nationalstolz nicht möglich. Weil lauter Patriotismus hoffärtig macht und die Lernfähigkeit blockiert.
In den 1980er-Jahren nimmt die Schweizer auf der Hockey-Weltbühne niemand ernst. Wir sind von einer WM-Medaille weiter entfernt als eine 1.-August-Rakete vom Mond. Von einem Millionenvertrag in der nordamerikanischen National Hockey League, der wichtigsten Liga der Welt, träumt niemand. Weil es ganz und gar unmöglich scheint, je dort mitspielen zu können. Aber es sind starke Persönlichkeiten, die nicht gewillt sind, dieses Mittelmass hinzunehmen.
Unsere höchste Spielklasse ist zwar bloss eine sportliche Operettenliga. Aber wir sind reich genug, um exzellente ausländische Trainer als Ausbildner und Spieler als Vorbilder ins Land zu holen. Dank einer guten Infrastruktur ist es möglich, immer mehr junge Spieler auszubilden. Und weil nur besser wird, wer sich den Besten stellt, entwickelt Peter Zahner als Verbandsportdirektor Konzepte, um bereits im Juniorenalter gegen die besten Gleichaltrigen der Grossen zu spielen. Später wird Peter Zahner in Zürich ein Wunder vollbringen: Er orchestriert in der Stadt den Bau der modernsten Hockeyarena in Europa. Aber das nur nebenbei.
Nach und nach ziehen die mutigsten Talente in die Welt hinaus, nach Schweden, in die USA, nach Kanada, um dort bereits als Junioren in Nachwuchsmeisterschaften mit einem «gnadenlosen» Leistungsprinzip die Härte für eine ganz grosse Karriere zu holen. Ende der 1990er-Jahre schaffen es die ersten Schweizer in die NHL, und heute ist eine NHL-Karriere das realistische Ziel so mancher Buben.
Zum aktuellen WM-Team gehören sechs Stars aus der NHL, die alle mehr als drei Millionen im Jahr verdienen. Sie müssten nicht bei der WM spielen. Eine WM-Teilnahme rechnet sich nicht und steigert auch den Marktwert nicht. Aber sie eilen Jahr für Jahr herbei, um das nationale Dress zu tragen – fast so, wie der brave Soldat in den WK einrückt. Weil sie Patrioten eidgenössischer Prägung sind. Tief in heimischer Erde verwurzelt und stolz auf ihre Herkunft.
Die Verbundenheit geht so weit, dass Nico Hischier – ein Hockey-Weltstar und Captain des NHL-Teams in New Jersey – bis zum Turnierende bei der Mannschaft bleibt, obwohl er wegen einer Blessur nicht mehr mitspielen kann. Die Jahr für Jahr gestellte Frage, warum die Schweizer NHL-Stars immer wieder zur WM anreisen, scheint sie zu irritieren, weil das doch eine selbstverständliche patriotische Pflicht ist.
Vom Eishockey können wir auch lernen, wie wichtig der Mut zum grossen Denken, zum Bekenntnis zu grossen Zielen ist. In einer Welt, die Lautstärke oft mit Stärke verwechselt, kann Bescheidenheit wie Schwäche wirken. Doch wahre Bescheidenheit ist kein Rückzug ins Kleinmachen – sie ist ein stilles Fundament. Sie prahlt nicht, sie protzt nicht. Wer bescheiden ist, denkt nicht kleiner. Er denkt freier. Frei von der Angst, beurteilt zu werden. Frei vom Druck, sofort beeindrucken zu müssen. In dieser Freiheit liegt der Raum, kühn zu träumen, Visionen zu entwickeln.
Es braucht Klarheit, Weitblick – und den Mut, sich selbst nicht ins Zentrum der Idee zu stellen. Oder wie es der grosse Albert Einstein, dessen Denken sicherlich auch durch seine Arbeit beim Patentamt der Stadt Bern stark geprägt worden ist, einst sagte: «Bescheidenheit heisst nicht, klein zu denken. Es heisst, den eigenen Platz im grossen Ganzen zu erkennen – und dennoch gross zu träumen.»
Eine ganz besondere Persönlichkeit steht für diesen Mut zum grossen Denken, für den letzten Schritt zur Weltgeltung unseres Hockeys: Patrick Fischer. Vor neun Jahren kam der damalige Verbandsportdirektor Raeto Raffainer zum Schluss, nun sei es Zeit, sich von den ausländischen Trainern zu emanzipieren. Weil wir genug gelernt haben und auf eigenen Beinen stehen können. «Swissness» nennt er das Programm und holt Patrick Fischer an die nationale Bande.
Einen Nonkonformisten, der auch in Amerika und kurze Zeit sogar in der höchsten russischen Liga gespielt hatte. Freundlich, bescheiden, weltoffen und mit dem Mut zu ebendiesem grossen Denken. Er formuliert als Erster das Ziel «Weltmeister».
Nach wie vor hat der Sport in unserem Land nicht die Anerkennung wie in vielen anderen Ländern. Nach wie vor neigen Wirtschaftsgrössen und Politisierende dazu, den Sport geringzuschätzen, und eilen nur herbei, wenn die Chance besteht, dass ein wenig Sternenstaub des Ruhmes eines Sportstars auf ihre Massanzüge und Abendkleider fällt. Dabei täten «Sportli» wie Patrick Fischer gerade in den aufregenden und schwierigen Zeiten des «Freiheitskampfes gegen die Vögte aus Brüssel» der Politik ganz gut.
Unser Sport tickt im Grunde national und international gleich wie unsere Wirtschaft, unsere Diplomatie, unsere Politik. Aber er ist dynamischer, mutiger, innovativer und noch besser global vernetzt. Der Sport im Allgemeinen und das Eishockey im Besonderen als Trendsetter, als Vorbilder für Wirtschaft, Diplomatie und Politik. Ganz besonders in diesen Tagen an der Eishockey-Weltmeisterschaft.